Immer mehr Menschen erwägen ein Elektroauto zu kaufen. Nach Möglichkeit sollte es mit regenerativ erzeugtem Strom fahren. Sie wollen damit die fossilen Ressourcen schonen und etwas für die Umwelt tun. Und sie haben das Gefühl, dass sie damit Pioniere für einen Trend sind, der in wenigen Jahren nicht mehr aufzuhalten sein wird.
Im Verbundprojekt Visio.M haben Forscher der TU München zusammen mit Experten aus der Industrie untersucht, wie ein alltagstaugliches, preisgünstiges und sicheres Elektroauto aufgebaut sein könnte. Das Ergebnis des Vorhabens, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung über zweieinhalb Jahre mit insgesamt 7,1 Mio. € gefördert wurde, ist ein Kleinstfahrzeug, das bezüglich Effizienz und Sicherheit neue Maßstäbe setzt. Die Forscher stellen ihr Fahrzeug auf der eCarTec vom 21. bis 23. Oktober 2014 der Öffentlichkeit vor.
Flottes Leichtgewicht
Der Visio.M hat eine Reichweite von rund 160 Kilometern und bietet Platz für zwei Personen mit Gepäck. Mit nur 15 Kilowatt Motorleistung erreicht das Fahrzeug eine maximale Geschwindigkeit von 120 km/h. Sein Design ist sportlich und selbstbewusst. Die Ausstattung erfüllt alle wesentlichen Anforderungen an ein modernes Fahrzeug, mit Infotainment und Navigationshilfen bis hin zu Lenkrad- und Sitzheizung.
Der Elektromotor im Visio.M bezieht seine Energie aus einem Lithium-Ionen-Akku hinter den Sitzen, der aus Consumer-Zellen besteht und eine Kapazität von 13,5 kWh bereitstellt. Der Akku wiegt annähernd 85 kg und lässt sich in nur drei bis vier Stunden an einem 230 V-Anschluss aufladen. In seinen Gesamtkosten aus Anschaffung und Betrieb soll das Fahrzeug günstiger sein als ein vergleichbarer Benziner.
Entscheidend für die hohe Energieeffizienz des Visio.M ist sein geringes Gewicht. Die Fahrgastzelle besteht aus kohlefaserverstärktem Kunststoff, in Vorder-, Hinterwagen und Dachrahmen kommt Aluminium zum Einsatz. Alle Scheiben bestehen aus Polycarbonat. Dieses Material ist nur halb so schwer wie Glas, dank einer speziellen Beschichtung aber ebenso kratz- und witterungsbeständig. Auch bei Fahrwerk, Lenkung und Getriebe sparten die Forscher mit speziellen Leichtbaukonstruktionen Gewicht ein. Ohne Batterie wiegt der Visio.M damit nur 450 Kilogramm.
„Für ein Elektrofahrzeug ist geringes Gewicht essenziell“, sagt Prof. Markus Lienkamp, Inhaber des TUM-Lehrstuhls für Fahrzeugtechnik, „denn mehr Gewicht erfordert mehr Akkuleistung für die gleiche Reichweite und verursacht damit höhere Kosten. Mehr Gewicht heißt auch weniger Dynamik bei gleicher Leistung. Wir wollten aber ein Auto, das bezahlbar ist und Spaß macht beim Fahren.“
Sicherheit steht im Vordergrund
Ein alltagstauglicher Pkw für den Massenmarkt muss einen wirksamen Schutz für die Insassen gewährleisten. Vor allem beim Zusammenstoß mit schwereren Fahrzeugen muss auch ein Kleinstfahrzeug trotz seiner geringen Außenabmessungen einen sicheren Überlebensraum bieten. Beim Visio.M besteht die Fahrgastzelle aus einem innovativen, mehrteiligen Monocoque aus kohlenstofffaserverstärktem Kunststoff in Kombination mit ultraleichten Sandwichmaterialien und ist durch eine besonders hohe Steifigkeit gekennzeichnet.
Zusätzlich haben die Ingenieure ein Sicherheitskonzept entwickelt, das konsequent die vorausschauende Analyse des Verkehrsgeschehens einbezieht. Durch eine 360°-Erfassung der unmittelbaren Fahrzeugumgebung mittels Radar- und Kamerasensoren ist es möglich, frühzeitig kritische Fahrsituationen zu erkennen. Diese Informationen werden nicht nur für Fahrerassistenz und Warnung genutzt. Erkennt das Fahrzeug eine nicht mehr vermeidbare Kollision, aktiviert es eingebaute Insassenschutzsysteme schon vor dem eigentlichen Crash.
Neuartige Struktur-Airbags sind im Stoßfänger und in den Türen montiert. Sekundenbruchteile vor dem Aufprall füllt ein Gasgenerator diese Druckschläuche, die als zusätzliche Absorptionselemente dienen.
Adaptive Gurtstraffer- und Kraftbegrenzer-Systeme reduzieren die auf die Insassen wirkenden Kräfte. Ein mit dem normalen Sicherheitsgurt kombinierter 2-Punkt-Gurt verbindet die Insassen optimal mit dem Sitz. Erkennt das System einen unvermeidlichen Seitenaufprall, wird der Insasse auf der Unfallseite unmittelbar vor dem Anprall mit Hilfe seines Sitzes nach innen verschoben und so aus der unmittelbaren Gefahrenzone gebracht. Die Vorbeschleunigung des Insassen mindert den auf ihn wirkenden Crash-Impuls und erhöht die Wirksamkeit des Seitenairbags. Einen möglichen Zusammenprall zwischen Fahrer und Beifahrer fängt ein zwischen den Sitzen eingebauter Interaktions-Airbag ab.
Ergonomisch gestaltet
Im Gegensatz zu konventionellen Autos, bei denen die Ferse des Fahrers als Fixpunkt für die Verstellfunktionen festgelegt ist, wurde für Visio.M das Auge des Fahrers gewählt. Die Positionierung der Sicherheitssysteme und die Sicht auf das Verkehrsgeschehen konnten die Forscher so optimal anpassen. Der Fahrzeugsitz muss nur noch in der Höhe variabel sein, dafür sind die Pedale verstellbar.
Bedienelemente wie Radio, Klimaanlage oder Navigationsgerät erreicht man über ein zentrales Touch-Display, das ebenfalls verstellbar ist. Die Mensch-Maschine-Interaktion basiert dabei ausschließlich auf Wischgesten, die auf dem gesamten Display ausgeführt werden können. Der Fahrer muss also keine Schaltflächen treffen, und zur visuellen Orientierung genügen sehr kurze Seitenblicke.
Basis des Systems ist eine offene Software-Architektur, die jederzeit um zusätzliche Elemente erweitert werden kann. Dies ermöglicht, über Cloud-Anwendungen die heimische Musiksammlung einzubeziehen oder rechenintensive Applikationen wie eine um aktuelle Wetter- und Verkehrsdaten bereicherte energieeffiziente Routenplanung auf einem zentralen Server ausführen zu lassen. Alle erdenklichen Premium-Services sind so realisierbar. In Zukunft könnte dem Kunden beispielsweise ein Leihfahrzeug ferngesteuert vor die Tür gefahren werden. Experimentell wurde das im Projekt bereits realisiert.
Hohe Reichweite
Viele Aspekte müssen zusammenspielen, damit das Fahrzeug trotz der relativ kleinen Batterie eine möglichst große Reichweite erzielt. Dazu zählen niedriges Gewicht, geringer aerodynamischer Widerstand, effizienter Antrieb, wenig Rollreibung und energiesparende Klimatisierung.
Im Rahmen des Visio.M-Projekts haben die Forscher diese Parameter optimiert. So erhielt der 1,55 m breite und 1,31 m hohe Zweisitzer beispielsweise eine sehr gute Aerodynamik. Der niedrige cw-Wert von 0,24, die kleine Stirnfläche von 1,69 Quadratmetern und die auf niedrigen Rollwiderstand optimierten Reifen (115/70 R 16) verringern zusätzlich zum geringen Gewicht den Energieverbrauch.
Einen weiteren Beitrag zur Effizienz leistet das aktive „Torque Vectoring“-Differenzial: Eine kleine Elektromaschine im Getriebe, die sowohl als Elektromotor als auch als Generator betrieben werden kann, verteilt die Kraft ideal auf die beiden Hinterräder. Durch die bessere Stabilität beim Bremsen in Kurven kann auf diese Weise wesentlich mehr Energie zurückgewonnen werden als ohne Torque Vectoring. Gleichzeitig wird das Auto durch die günstige Verteilung der Antriebs- und Bremskräfte sehr viel agiler und sicherer.
Energiesparende Klimatisierung
Besonderes Augenmerk wurde im Visio.M auch auf die Ausgestaltung von Klima und Heizung gelegt. Überall dort, wo Wärme entsteht, wird diese zurückgewonnen, um sie bei Bedarf für die Heizung des Wagens nutzen zu können. Im Klimagerät sowie in den Sitzen sind sogenannte Peltier-Elemente eingebaut. Diese elektrothermischen Wandler können sowohl wärmen als auch kühlen. Damit ist ein umweltfreundlicher Betrieb ohne Kältemittel gewährleistet.
Bei sehr kalter Witterung steht außerdem ein mit Ethanol befeuerter Brenner zum reichweitenneutralen Heizen bereit. Das Aggregat mit einer thermischen Heizleistung von etwa 4,5 kW sorgt insbesondere für das Entfrosten der Windschutzscheibe. Eine intelligente Regelung ermöglicht es, die optimale Lösung für einen energieeffizienten und komfortablen Betrieb des Klimasystems einzustellen.
Massentaugliche Elektromobilität
Im Zuge der Entwicklungsarbeiten wurden die Systeme einer Vielzahl von Tests unterzogen, um sie auf ihre Funktionstüchtigkeit, Sicherheit und Zuverlässigkeit zu prüfen. Am Ende steht nun ein Elektrofahrzeug, das insbesondere bei der Industrie großes Interesse wecken dürfte. Prof. Markus Lienkamp ist optimistisch: „Mit dem Visio.M haben wir gezeigt, dass es möglich ist, ein sehr leichtes und gleichzeitig sicheres Elektrofahrzeug zu bauen, dessen Gesamtkosten bei Serienproduktion unter denen eines vergleichbaren Benziners liegen sollen. Bis zu einer Serienfertigung ist es aber immer noch ein weiter Weg, denn nahezu alle Teile müssten an die Fertigungsbedingungen der Großserie angepasst werden.“