Zusammen mit der renommierten Fassadenschmiede FRENER & REIFER haben wir ein selbstregulierendes Fenster entwickelt, das sich erstmals völlig autoreaktiv und ohne zusätzliche Energie selbst öffnet und schließt. Nach dem Vorbild der menschlichen Haut, die ihre Poren öffnet um die Körpertemperatur zu regulieren, atmet diese Fassade bei Bedarf und trägt so dazu bei, dass wir den Einsatz mechanischer Belüftung und Klimatisierung von Innenräumen verzichten oder sie zumindest deutlich reduzieren können.
Architektur gilt in einer dynamischen Zeit, in der sich unsere Lebensbedingungen und unser Umfeld immer wieder ändern, als eine beruhigende Konstante unserer gebauten Umwelt. Dennoch verändern sich ständig die Anforderungen an unsere Gebäude vor allem im klimatischen Kontext sowohl saisonal als auch innerhalb eines Tages. Somit entstehen unterschiedliche Anforderungen an unsere Raumkonditionierung und an die Gebäudehülle, im speziellen hinsichtlich Temperatur und Feuchtigkeit. Um diese Unterschiede zwischen äußeren Wetterbedingungen und inneren Anforderungen für Nutzer zu vermitteln, verbrauchen Heizungs-, Lüftungs- und Klimaanlagen eine erhebliche Menge an Energie.
Energieverbrauch von Verwaltungsgebäuden
Vor allem in Verwaltungsgebäuden ermöglicht uns die Anlagentechnik ein konstant behagliches Innenraumklima bei starken Schwankungen der Jahres- und Tageszeiten. Für die Bereitstellung der hohen Anforderungen an den Komfort unserer Innenräume hinsichtlich eines behaglichen Temperatur- und Luftfeuchtigkeitsniveaus ist ein enormer Energieverbrauch nötig. Die folgenden Zahlen zeigen den Stromverbrauch von Bürogebäuden in Mitteleuropa, der vor allem für Gebäudetechnik verwendet wird.
- klimatisierte Gebäude (Bestandsgebäude): 654 kWh / m2
- durchschnittliches Bürogebäude (klimatisiert und nicht klimatisiert, bestehendes Gebäude): 424 kWh / m2
- neue Bürogebäude und (Standardsegment): 200 kWh / m2
- optimierte Bürogebäude 100 kWh / m2
(Pfafferot, J. and D. Kalz, Zielwerte für primär energetisch optimierte Buerogebaeude im EnOB Forschungsbereich »Energieoptimierter Neubau« (EnBau). 2007, Bine Informationsdienst p. 5.)
In den letzten Jahren ist also der Energiebedarf von Bürogebäuden gesunken, Die Directive 2010/31/EU verlangt jedoch ab dem Jahre 2020, dass alle Neubauten beinahe energieneutral sein müssen. Um dieser Anforderungen gerecht zu werden sind weitere Maßnahmen notwendig.
Global betrachtet ist der Einsatz von Gebäudetechnik zur Lüftung, Heizung und Kühlung, die wir in Industrieländern zur Bereitstellung von Nutzerkomfort in Innenräumen benötigen, für etwa 10 - 20 % des Endenergieverbrauchs verantwortlich. (1- Perez-Lombard, L., J. Ortiz, and C. Pout, A review on buildings energy consumption information. Energy and Buildings, 2008. 40: p. 394–398.) Darüber hinaus kann Klimatisierungstechnik auch zum so genannten „Sick-Building-Syndrom“ führen. Diese Anlagentechnik ist ferner für 2,7% der globalen Krankheitsfälle weltweit verantwortlich (Global health risks: mortality and burden of disease attributable to selected major risks. 2009, World Health Organization: Geneva.)
Insofern gibt es nicht nur energetische und gesundheitliche Grunde, den Einsatz von Anlagentechnik zu reduzieren. Auch der enorme Flächenverbrauch durch Lüftungsanlagen mit großen Querschnitten in Geschossdecken und Gebäudekernen ist als verlorene Nutzfläche ökonomisch fragwürdig. Denn gerade bei mehrgeschossigen Gebäuden kann die Verringerung der Aufbauhöhe von Geschossdecken ein zusätzliches Geschoss und somit vermietbare Fläche bei gleicher Gebäudehöhe bedeuten.
Glasfassaden als architektonischer Wunsch
Eine Verbesserung der Anpassungsfähigkeit von Gebäudehüllen wird im Hinblick auf die verschärften Energiestandards in den nächsten Jahren unabdingbar werden. Vor allem für Bürogebäude mit einem hohen Verglasungsanteil wird eine Anpassungsfähigkeit zunehmend relevant, denn die oben genannten Werte für den Energiebedarf von Bürogebäuden zeigen, dass aufgrund der absorbieren Sonneneinstrahlung im Sommer ein enormer Kühlbedarf zur Herstellung des Nutzerkomforts der Innenräume besteht. Je nach Ausrichtung und Farbe heizen sich Gebäudehüllen auch in Mitteleuropa auf über 90° Celsius auf. Im Winter bewirken Wärmeverluste durch die Gebäudehülle, insbesondere durch schlechte U-Werte der Verglasung, erhebliche Heizlasten. Doch der Wunsch nach viel Tageslicht in Innenräumen und der erweitere Sichtbezug zur Außenwelt lässt den Bedarf nach hohem Verglasungsanteil global weiter steigen, auch weil die ausreichende Versorgung mit Tageslicht gerade in den Wintermonaten wichtig für unser Wohlbefinden ist. Vor allem in den 1990er und den frühen 2000er Jahren entstanden daher viele Verwaltungsgebäude mit hohem Verglasungsanteil mit so genannten doppelschaligen Gebäudehüllen.
Um den außenliegenden Sonnenschutz vor Wind zu schützen, entsteht durch eine vorgelagerte Glasscheibe ein Luftraum zwischen äußerer und raumseitiger Verglasung. Der sich hier befindende Sonnenschutz heizt sich durch Absorption solarer Strahlung auf und gibt diese Wärme zunächst an die Luft im Fassadenzwischenraum ab. Zeitversetzt werden diese Temperaturen auch durch eine gut isolierende Verglasung an Innenräume weitergegeben. Um dies zu verhindern, sind gerade doppeltverglaste Hochhäuser in ihrer äußeren Ebene mit Lüftungsschlitzen ausgestattet, die eine Durchlüftung des Fassadenzwischenraums ermöglichen. Diese ständige Öffnung des Fassadenzwischenraumes verhindert zwar die starke Überhitzung der Luft und der angrenzenden Oberflächen, ist aber im Winter nicht optimal, wenn man zur Verbesserung der Wärmedämmung die Luftzirkulation eigentlich minimieren möchte. Außerdem ist die durchströmende Außenluft an stark befahrenen Strassen und im städtischen Raum oft mit Partikeln verunreinigt und führt zur Verschmutzung der Scheibenflächen und des Sonnenschutzes, was hohe Kosten für Reinigung der Fassade mit sich bringt.
Der Trend zur Closed Cavity Fassade
Gerade für Länder mit hohen Lohnkosten für Reinigungskräfte aber auch für Regionen mit hohen Staubanteilen in der Luft, wurden zuletzt technikintensive Fassaden, so genannte Closed Cavity Fassaden, kurz CCFs entwickelt. Um den teuren und wiederkehrenden Reinigungs- und auch Wartungsaufwand zu reduzieren ist der Raum zwischen den Glasebenen versiegelt und wird ständig mit gereinigter und entfeuchteter Luft versorgt, was der Kondensation im Scheibenzwischenraum vorbeugen soll. Die geschlossene Fenstereinheit hat aber zur Folge, dass sich der im Scheibenzwischenraum liegende Sonnenschutz stark aufheizt und diese Wärmestrahlung auch durch die dahinterliegende Drei-Scheibenverglasung an die Innenräume weitergegeben wird. Neben dieser sehr technikintensiven Fassade erfordert diese Lösung auch eine intensive Haustechnik, die die eingetragene Wärme in den Innenräumen kühlt.
Autoreaktive Fassade als Antwort
Das neu entwickelte autoreaktive Fassadenbelüftungssstem, welches von einem Team der TU München zusammen mit dem Fassadenunternehmen Frener und Reifer entwickelt wurde, verhindert durch ein selbstregulierendes System genau diese Überhitzung des Fassadenzwischenraums. Nach dem Vorbild der menschlichen Haut öffnet und schließt sich der Scheibenzwischenraum selbstständig aufgrund von äußeren Temperaturschwankungen. Es handelt sich hier um eine Low-tech Lösung, die ohne aufwendige Sensorik, Steuer- und Regelungstechnik auskommt. Diese Technologie vereint die Vorteile eines geschlossenen Zwischenraums der „Closed Cavity Fassade“ und einer ständig durchlüfteten Doppelfassade der 1990er Jahre. Die genaue Funktionsweise der autoreaktiven Fassade stellt sich wie folgt dar:
Die Fassade basiert auf einem herkömmlichen Kastenfenster mit einem Sonnenschutz als textiler Behang oder Raffstore, der sich windgeschützt im Fassadenzwischenraum befindet. Die äußere Scheibe des Kastenfensters ist über einen Scherenmechanismus parallel ausstellbar und an den Ecken über vier mit Paraffin gefüllte Zylinder mit dem Rahmen verbunden. Bei einem Anstieg der Lufttemperatur zwischen den Scheiben auf über 23 Grad Celsius, drücken die Paraffinzylinder über die entstehende Volumenausdehnung des Materials die äußere Glasfront um acht Zentimeter parallel nach außen. Durch den entstehenden Schlitz zwischen Rahmen und Scheibe kann kühlere Außenluft eindringen. Dieser Vorgang sorgt für eine Evakuierung von stark erwärmter Luft, die auf die absorbierte Wärme am Sonnenschutz zurückzuführen ist.
An Hochhausfassaden besteht ein ständiger Luftdruck oder Luftsog auf die Fassade, was eine kontinuierliche und gute Durchlüftung des Fassadenzwischenraums gewährleistet. Das so herabgesetzte Temperaturniveau reduziert den Wärmestrom zu den Innenräumen und bewirkt somit eine Reduktion der Kühllasten für die dahinterliegenden Räume. Bei einem Abfall der Temperatur auf unter 19 Grad schließt sich der Spalt durch eine Rückstellfeder am Teleskopzylinder wieder. Dieser Vorgang kann mehrmals innerhalb einer Stunde wiederholt werden, da das Paraffin eine relativ kurze Reaktionszeit hat. Im Winter bleibt das Fassadenmodul an kalten Tagen geschlossen und erhöht so den U-Wert der Fassade indem die entstehende Pufferzone ein Wärmepolster entstehen lässt. Durch die so verringerten Transmissionswärmeverluste können die Heizlasten im Vergleich zu einem ständig geöffneten Fassadenzwischenraum um fast 45% verringert werden. Die ansteuerbaren Temperaturniveaus, die den Mechanismus auslösen, können mit einer thermodynamischen Software gezielt ermittelt und in einer Veränderung des Paraffins im Teleskopzylinder verändert werden.
Entwicklung und Wirkung
Für die Entwicklung des autoreaktiven Fassadenmoduls wurden in enger Abstimmung mit den Architekten thermische Simulationen am Lehrstuhl für Gebäudetechnik und klimagerechtes Bauen der TU München durchgeführt. Als Standort für die Simulationen wurde exemplarisch die Südfassade eines Verwaltungsgebäudes in München zu Grunde gelegt. Der Referenzraum wies eine nahezu vollflächige Verglasung mit einer Drei-Scheibenverglasung, Aluminium Raffstore im Fassadenzwischenraum und einer äußeren Prallscheibe auf. Die anschließenden Berechnungen ergaben gegenüber ständig geschlossenen Fassaden ein Energieeinsparpotential zur Kühlung der Räume von fast 50 % über ein Jahr betrachtet. Wichtig ist aber vor allem, dass der geöffnete Zustand des Fassadenzwischenraums nur ein Fünftel des Jahres geschaltet ist. Folglich wird auch die Reinigungs- und Wartungshäufigkeit beträchtlich reduziert, was insofern als eine wesentliche Kostenreduzierung gegenüber ständig geöffneten Doppelfassaden bezeichnet werden kann.
Darüber hinaus verhindert das durch den belüfteten Hohlraum reduzierte Temperaturniveau eine Beschädigung des Sonnenschutzes. Denn dauerhaft geschlossene Fassadenzwischenräume heizen sich bis auf 90 Grad Celsius auf. Diese hohen Temperaturen können bei Sonnenschutzeinrichtungen sehr schnell zu Ausfall oder technischen Problemen an Motoren für Jalousien und deren kinetischen Komponenten führen. Neben diesen Aspekten ist im Hinblick auf den laufenden Betrieb eines Gebäudes ein ganz entscheidender: Die selbstregulierende Fassade arbeitet dezentral und muss nicht über aufwendige Sensorik und Aktuatoren an die Gebäudetechnik gekoppelt werden.
Aus architektonischer Sicht ist aber vor allem relevant, dass es sich hierbei um eine technische Lösung handelt, die die Gestaltungsfreiheit von Architektinnen und Architekten nicht einschränkt. Denn die Funktionsweise hat kaum Auswirkungen auf die Fassadengestaltung und ist nahezu unsichtbar. Auch in Puncto Dauerhaftigkeit ergeben sich einige Vorteile, denn die kinetischen Komponenten werden seit Jahrzehnten als Belüftungselemente in Gewächshäusern eingesetzt und weisen eine nahezu wartungsfreie und elektrizitätsunabhängige Lösung auf. Der Wirkstoff Paraffin ist bereits heute in den meisten Heizungsventilen im Wohnbau nahezu wartungsfrei und kostengünstig im Einsatz, um den Volumenstrom eines Radiators zu regulieren Es handelt sich also hier um ein bewährtes Material, von hoher Zuverlässigkeit, welches vergleichsweise preiswert ist. Dieses robuste System ermöglicht somit eine unkomplizierte Integration in gängige Fassadentypologien.
Steuerung durch autoreaktive Funktionsweise
Bei der Realisierung solcher Fassaden ist es wichtig, dass eine autoreaktive Steuerungsstrategie auf einen individuellen klimatischen und städtebaulichen Kontext sowie an das Nutzungsprofil angepasst wird. Daher sollte jeweils in der Planungsphase die Parameter des Nutzerkomforts ermittelt und später in thermischen Simulation entwickelt werden. Der angesteuerte Temperaturbereich der autoreaktiven Komponenten kann an spezifische Kontextanforderungen wie Klimazonen, Fassadenorientierung und Benutzerpräferenzen angepasst werden. Das entwickelte System ist nur ein Baustein von vielen Möglichkeiten, die uns autoreaktive Materialien und Systeme ermöglichen. Beispielsweise kann ein solches System mit anderen Aktivierungstemperaturen auch Klappen für die Nachtauskühlung von Gebäuden ansteuern. Tagsüber im Sommer werden diese Klappen bei zu hohen Temperaturen geschlossen. In der Nacht, wenn die Außentemperaturen unter 20 Grad Celsius fallen, werden die Lüftungsklappen autoreaktiv geöffnet was ein Auskühlen der Innenräume und der Speichermassen, Beispielsweise Betondeckenplatten und Aufzugskerne, ermöglicht. Auch eine natürliche Durchlüftung von Atrien könnte so selbstregulierend thermisch gesteuert werden.
Aktuell arbeiten wir an feuchtigkeitsregulierenden Systemen, die Kondensation in Doppelfassaden verhindern. Unser Ziel ist es, Gebäudehüllen zu entwickeln, die mit einfachen Technologien zu einer Verringerung der Gebäudetechnik und vor allem zu mehr Nutzerkomfort führen.
Team: Thomas Auer, Tillmann Klein, Claudio Aresta, Johannes Ingrisch, Cecile Bonnet, Tobias Wagner
In Kooperation mit: Frener Reifer Fassaden, Michael Reifer
Kontakt
Dr.-Ing. Philipp Lionel Molter
Technische Universität München
Tel: +49.89.289.28462
philipp.molter@tum.de
Unter dem folgenden Link können Sie den erläuternden Film ansehen:
https://vimeo.com/232342315?utm_source=email&utm_medium=vimeo-cliptranscode-201504&utm_campaign=29220