Baukonstruktion gotischer Fenstermaßwerke in Mitteleuropa

Die prachtvollen Maßwerkfenster bilden eines der konstituierenden Elemente des gotischen Sakralbaus. Trotz ihrer Rolle als Leitform der Gotik bestanden bisher keine umfassenden Untersuchungen zu Konstruktion und Tragverhalten der Maßwerke: wie sind die Baudetails ausgebildet und wie haben sie sich entwickelt? Auf welche Weise erfolgt bei den teils riesigen Glasflächen die Abtragung der Windlasten? Erfüllen die reichen Ornamente auch eine konstruktive oder statisch relevante Rolle?
An Hand von über einhundert Fallbeispielen erfolgt eine Darstellung von den ersten Beispielen an den Chorkapellen von Reims um 1220 bis zu den Maßwerken der ausgehenden Gotik etwa dreihundert Jahre später. Der Schwerpunkt liegt auf einer umfassenden Studie der Maßwerke Mitteleuropas; neben den typischen Hausteinkonstruktionen werden auch die Backsteinmaßwerke des Küstenlandes berücksichtigt.

Dissertation
Lehrstuhl für Tragwerksplanung
Bearbeiter: Christian Kayser
abgeschlossen 2011

Seit dem 19. Jahrhundert wurden zahlreiche Aspekte der gotischen Baukonstruktion unter verschiedenen fachlichen Blickrichtungen analysiert.

Während etwa die mittelalterliche Wölbkunst neben kunsthistorischen und formal orientierten Analysen auch in Hinblick auf Statik und Baukonstruktion betrachtet wurden, fehlen entsprechende Untersuchungen für die Fensterkonstruktionen nahezu vollständig. 
Maßwerkfenster bilden eines der wesentlichen Elemente des spätmittelalterlichen Sakralbaus und prägen entscheidend die räumliche Wirkung. Die reiche Formenvielfalt der Fenster tritt in der bisherigen Forschung deutlich gegenüber den bautechnischen Aspekten der Fenster in den Vordergrund.

Die größten mittelalterlichen Maßwerke erreichen dabei Flächen von über 100 m2 – die Errichtung einer so umfangreichen baulichen Struktur stellt beträchtliche Ansprüche an Planung und handwerkliche Ausführung. Neben die gestalterischen und konstruktiven Aspekte treten dabei auch statische Fragestellungen: wie sind die Details ausgebildet, wie interagiert die Rippenstruktur mit dem umgebenden Mauerwerk, wie erfolgt die Abtragung der hohen einwirkenden Windlasten.

Ziel der Arbeit ist die grundlegende Klärung und Darstellung aller wesentlichen baukonstruktiven Detailausbildungen sowie ihrer Entwicklung seit dem Aufkommen der ersten Maßwerke um 1220 bis zu den verbreiteten spätgotischen Konstruktionen.
Hierbei werden neben den auffälligen, reichen Couronnementbereichen auch erstmals die Pfostenstrukturen der Maßwerke analysiert und in einen bautechnischen Kontext gestellt. Neben den steinernen Bauteilen wird der Einsatz von schmiedeeisernen Ankersystem sowie des Bleivergusses der Fugen untersucht.
Da Maßwerkstrukturen bei Instandsetzungsarbeiten in den letzten Jahrzehnten häufig vollständig ausgetauscht wurden (und immer noch werden!), ist der Bestand an erhaltenen mittelalterlichen Maßwerken bereits deutlich eingeschränkt. Zahlreiche der in der Arbeit dokumentierten Fenster sind inzwischen nicht mehr erhalten.

Neben der konstruktiven Ausbildung des Gefüges werden die an den Maßwerken auftretenden Schadensbilder aufgenommen und analysiert. Rissbildungen und Deformationen erlauben einen Einblick in die wirkenden Kräfte und können mit bestimmten bautechnischen Aspekten – etwa der Verwendung bestimmter Steinsorten oder Steinschichtungen – in Korrespondenz gesetzt werden. Die Dissertation kann dadurch auch einen Beitrag bei der statisch-konstruktiven Instandsetzung historischer Maßwerke leisten: durch das Verständnis von Wirkungszusammenhängen und die Systematisierung von Schadensbildern wird ein zielgerichtetes Planen von Instandsetzungsstrategien möglich.

Ein besonderes Augenmerk wird des Weiteren auf die Interdependenz von Form und Konstruktion gelegt – hier ist zu untersuchen, in wie weit die formale Gestaltung der Couronnementbereiche auf Anforderungen des Bauablaufes, notwendiger Arbeitsschritte oder der (angenommenen) Beanspruchung durch wirkende Kräfte reagiert. In die Untersuchung miteinbezogen werden dabei die wenigen erhaltenen bauzeitlichen Dokumente zum Entwurf und zur Konstruktion von Maßwerkfenstern. Relevant sind dabei neben dem „Bauhüttenbuch“ des Villard und den „Werkmeisterbüchern“ der deutschen Spätgotik auch Planzeichnungen, Ritzzeichnungen und zeitgenössische Kleinarchitekturen.
Die Untersuchung leistet damit einen weiteren Beitrag zur Diskussion um Methoden und bautechnische Kenntnisse der mittelalterlichen Baumeister

Anlass der Arbeit war die umfangreiche denkmalgerechte Instandsetzung des erhaltenen Chorscheitelfensters der Nördlinger Georgskirche in den Jahren 2002 - 2003, die vom Lehrstuhl für Tragwerksplanung (Prof. Dr.-Ing. Rainer Barthel) wissenschaftlich begleitet wurde. Die dabei gewonnen Erkenntnisse an einem Einzelbauwerk können durch den Abgleich mit zahlreichen weiteren Fallbeispielen überprüft und verallgemeinert werden.

Von zentraler Bedeutung für die Arbeit ist die Dokumentation zahlreicher Fallbeispiele des mitteleuropäischen Raumes. Alle Beispiele werden dabei direkt aufgesucht. So weit möglich, werden Schadensaufnahmen vor Ort durchgeführt und die Profile aufgenommen. Der Katalog der einzelnen Fallbeispiele bildet damit die Grundlage für eine allgemeine Darstellung der üblichen Baukonstruktionen. Bei zahlreichen Bauten erfolgte eine enge Zusammenarbeit mit den betreuenden Bauhütten, durch die weitere Materialien zur individuellen Bau- und Schadensgeschichte der Fallbeispiele erschlossen werden konnten.