Wir tragen große Verantwortung

Christian Werthmann ist Professor an der Harvard Graduate School of Design. Im November 2010 wurde Christian Werthmann als Hans Fischer Senior Fellow am TUM Institute for Advanced Study bestellt

Bild: facesbyfrank

 

Herr Prof. Werthmann, was ist Ihr Forschungsbereich?
Meine Forschungsarbeit konzentriert sich auf Landschaft und Infrastruktur in Metropolregionen. In den nächsten 40 Jahren wird die Stadtbevölkerung weltweit von drei Milliarden auf sieben Milliarden anwachsen. Im Moment lebt ein Drittel der Stadtbewohner – also eine Milliarde Menschen – in sogenannten informellen Städten, Slums oder Favelas. In den nächsten 40 Jahren wird sich diese Zahl verdreifachen. Das heißt in der Konsequenz, fast die Hälfte alles Stadtwachstums auf unserem Planeten ist informell.

Welche Motivation steht hinter Ihrer Arbeit?
Ich habe bei Recherchen nur wenig Landschaftsarchitekten gefunden, die in diesem Gebiet arbeiten oder forschen, obwohl es so viele Menschen betrifft. Die großen Projekte der formalen Städte bekommen jede Menge Aufmerksamkeit. Der andere große Teil des zukünftigen weltweiten Stadtwachstums wird vernachlässigt. Ich dachte mir, damit muss sich jemand auseinandersetzen. Wenn wir als Landschaftsarchitekten uns nicht mit diesem Thema befassen, dann haben wir als Profession versagt.

Wie wird in der Architektur mit Slums umgegangen?
In den 50er Jahren fingen einzelne Architekten an, die informellen Stadtteile zu analysieren und die bemerkenswerte Kreativität dieser wilden Bauten herauszuarbeiten. Inzwischen wird es glücklicherweise langsam zu einer allgemeinen Weisheit in der Stadtplanung, dass es völlig verkehrt ist, informelle Stadtteile abzureißen und die Bewohner zwangsweise umzusiedeln.

Aktuell haben Sie ein Projekt in Haiti laufen.

Es handelt sich dabei um eine Public Private Partnership. Die deutsche Bank ist auf uns zugekommen und hat nach Bewerbungen gefragt, um eine Mustersiedlung für 125 Wohneinheiten zu bauen. Wir von Harvard haben uns zusammen mit dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) beworben und das Projekt bekommen. Von Beginn an war mir klar, dass 125 Wohneinheiten zu wenig sind, man braucht mindestens 2.000 bis 3.000,
damit die Siedlung replizierbar und repräsentativ wird. Anfangs hatten wir allerdings nur fünf Hektar bebaubares Land zur Verfügung, die auf einem riesigen Gelände von 70 Hektar liegen. Daher entwickelten wir als Erstes einen Urbanisationsprozess, der die Selbstbaukapazitäten der Haitianer zur Grundlage allen Bauens macht und im großen Maßstab umgesetzt werden könnte, also ein „geplanter Wildbau“. Dabei werden die besonderen Gegebenheiten des Geländes berücksichtigt und in der Infrastruktur aktiv mit
einbezogen. Aus dieser Grundlage konnten wir die sinnvollste Nutzung der fünf Hektar als Teil eines größeren Organismus ableiten.

Sie haben also kurzerhand das Projekt umdefiniert.
Sozusagen. Ohne die Integration der Mustersiedlung in einen größeren Kontext wären wir beim sogenannten „trophy housing“ angelangt. Das bedeutet, dass mit Spendengeldern vorzeigbare Siedlungen gebaut werden – daher „trophy“– und sich niemand Gedanken macht, ob die Leute in den Häusern Arbeit haben, wo sie ihr Essen herbekommen etc. „Trophy housing“ können sich Forscher von Harvard und MIT nicht leisten. Die Deutsche Bank unterstützte uns bei dieser Herangehensweise. Nachdem unser Projekt angenommen worden war, konnten wir es in intensiven zehn Minuten dem Präsidenten von Haiti und Bill Clinton als Sonderbotschafter von Haiti vorstellen. Michel Martelly und Bill Clinton hörten sehr genau zu und Clinton bot uns seine Unterstützung an. Dies war der Beweis für uns, dass wir mit unserer Strategie der großen Perspektive auf der richtigen Spur sind.

Was beinhaltet Ihre große Perspektive?
Wir beziehen Soziales, Infrastruktur, Erziehung, Kultur, Landwirtschaft, Essen, Energie und Transport mit ein und betrachten das alles als eine große Einheit. Unsere Idee ist, dass die Menschen dort so schnell wie möglich lernen, selbst gut zu bauen. Wir wollen eine Schule aufbauen, in der Jugendliche und Erwachsene alles lernen können, was man für guten Häuserbau wissen muss. Die Anwohner sind ja gegenwärtig zum größten Teil arbeitslos. 80 % der Menschen auf Haiti sitzen arbeitslos in ihren Zeltstädten. Die Kriminalität steigt, und für uns wäre es eine reine Weiterentwicklung der Hilfeabhängigkeit, wenn man Fertighäuser runter schickt, die dort aufgebaut werden. Da sitzen dann die Leute 10 km entfernt vom Stadtzentrum ohne feste Tätigkeit und Anbindung. Natürlich besteht ein gewisser Zeitdruck, da momentan 680.000 Menschen in Zelten wohnen. Sie jedoch von einer Misere in die nächste zu schicken, ist auch keine Lösung.

Wie geht es jetzt weiter mit Ihrem Projekt in Haiti?
Im Moment stoßen wir mit unserer Expertise die Dinge an und versuchen den Konstruktionsprozess zu optimieren. Wir als Universität sind ja keine Bauträger, theoretisch sind wir eigentlich nur Begleiter der konkreten Maßnahmen. Aber da im Moment kein anderer da ist, der konkrete Visionen entwickelt, machen wir das.

Sie arbeiten gerne in einem Expertenteam.
Ja. Ich glaube an die Teamintelligenz und bin überzeugt davon, dass Projekte reicher und effektiver werden durch Offenheit und Austausch. Innerhalb des Teams versuchen wir viele Bereiche abzudecken. Mein Partner bei dem aktuellen Projekt ist der political urbanist Prof. Phil Thompson vom MIT, der in der Stadtplanung mit Leuten zusammen arbeitet, die sonst in Kriminalität und Arbeitslosigkeit abdriften würden.

Jetzt sind Sie als Hans Fischer Senior Fellow wieder an der TUM. Für wie lange?
Für drei Jahre. In dieser Zeit sollte man mindestens 9 Monate in München verbringen, das ist eine Art Residenzpflicht. Ich verbringe meine ersten 6 Monate als IAS-Fellow hier in München. Danach werde ich in Harvard gebraucht. Die laufenden Forschungsprojekte dürfen nicht vernachlässigt werden. Da ich auch Programmdirektor bin, muss ich mich nebenbei um sehr viel Verwaltungsarbeit kümmern. Allerdings wurde ich für diesen Herbst von der Lehre befreit und bekomme einen sogenannten „Leave of absence“. Diese Zeit will ich nutzen, hier in München an einem Buch über Landschaft in Slums zu arbeiten. Dafür sind Fellowships perfekt.

Harvard unterstützt Ihr Fellowship?

In den USA ist das ein gängiges Konzept, in Deutschland bisher weniger bekannt. Wir haben ein ähnliches Programm an der Harvard Universität, die sogenannten Loeb-Fellows. Unsere Graduate School of Design bekam von einem Industriellen namens Loeb eine gewissen Summe an Geld, um career professionals ein Jahr von ihren universitären Verpflichtungen freizustellen, damit sie über Neues nachdenken können.

Wie gefällt es Ihnen als Fellow am TUM-IAS?

Ich bin jetzt in der zehnten Woche da und war schon bei zwei, drei Vorträgen von anderen Fellows. Das ist eine riesige Bereicherung für mich, da ich in Harvard nicht einmal die Zeit finde, zu den Vorträgen meiner eigenen Kollegen zu gehen, geschweige denn zu Vorträgen anderer Disziplinen. Letztens traf ich Prof. em. Peter Wilderer, der eine Kapazität im Bereich Wasser ist. Wir besuchten gleich ein Unternehmen, das Abwasseranlagen produziert, die für
lateinamerikanische Städte ebenfalls von Interesse sein könnten.

Ist das IAS-Fellowship an ein bestimmtes Projekt gebunden?

Es geht vor allem um die Zusammenführung von Netzwerken und das Anschieben von zukünftigen Forschungsprojekten. Man lernt sich kennen, trifft auf verschiedene Leute der Fakultät und findet gemeinsame Nenner. Mit den Kollegen Prof. Regine Keller und Prof. Harald Horn mache ich jetzt schon Diplomarbeitsbetreuung für mein Forschungsprojekt in Haiti. Im Oktober veranstalte ich zusammen mit Prof. Regine Kellers Lehrstuhl eine Konferenz „Metropolis Nonformal“ an der TUM und lade dazu neun internationale Wissenschaftler ein, die am Thema „informal settlements“ in Slums arbeiten, großartige Menschen und herausragende Forscher. Diese Konferenz ist nur dank meiner persönlichen Kontakte in dieser Form möglich.

Das heißt, TUM-Forscher und TUM-Studierende profitieren von den internationalen Fellows am IAS.
Auf jeden Fall. Jeder Fellow bringt sein eigenes Netzwerk an die TUM.

Das bringen Sie der TUM. Was bringt die TUM Ihnen?

Mir bringt der Aufenthalt an der TUM Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, die über Themen forschen, die meine eigenen Forschungen ergänzen. Zum Beispiel Prof. Regine Keller, die sich zunehmend mit der Rolle von Landschaftsarchitektur in Entwicklungsländern auseinandersetzt, Prof. Harald Horn, der das Thema Siedlungswasserwirtschaft abdeckt, Prof. Mark Michaeli mit nachhaltigem Städtebau oder Prof. Werner Lang mit energieeffizientem und nachhaltigen Bauen. Die europäischen Universitäten sind im Bereich der ökologischen Infrastrukturen fortgeschrittener als die amerikanischen. Als ich 1997 in die USA gegangen bin, gab es dort zwar Dachgärten, aber zum Beispiel keine Dachbegrünung mit Wassersammlung, die man in Deutschland schon in den 80er Jahren kannte. In meinem Studium lernte ich 1986 einiges, was zehn Jahre später in den USA noch völlig neu war.

Könnten Sie sich vorstellen, Studierende aus Harvard an die TUM zu schicken?
Durchaus, im Moment sind nur die Strukturen der beiden Universitäten sehr verschieden. Es gibt einige Gründe, an der TUM ein Auslandssemester zu machen.

Welche Gründe wären das zum Beispiel?
In Bezug auf nachhaltigen Städtebau und energie-effizientes Bauen ist es sicher interessant, an der TUM zu studieren. Die Umweltbewegung in Deutschland schuf eine gewisse Führungsposition in Europa. Man merkt heute noch, dass deutschen Forschern manche Forderungen der Umweltbewegung in Fleisch und Blut übergegangen sind.

Was empfehlen Sie Studierenden?
Dass sie sich international orientieren. Dafür ist das Erasmusprogramm fantastisch, man sollte das wirklich wahrnehmen. In den nächsten 50 Jahren wird sich die Welt wesentlich globaler entwickeln und wir tragen eine riesige Verantwortung. Wir können nicht auf unserer Insel sitzen. Deutschland ist ein Exportland. Das bedeutet nicht nur, Geld zu machen mit
anderen Ländern, sondern wir müssen erkennen, dass wir uns global so tief verstrickt haben, dass die Lebensgrundlagen anderer Länder inzwischen auch unsere eigenen sind.

Quelle: KontakTUM 2/2011